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Staatsphilosophie – Die Frage nach dem gerechten Staat

Die Frage nach dem idealen Staat beschäftigt die Philosophie schon seit der Antike. Der Grund dafür ist die Tatsache, daß er die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens ist. Doch wo Menschen zusammenleben kommt es unvermeidlich zu Interessenkonflikten, die zu lösen sind. Ganz zwangsläufig ergibt sich daraus die Frage nach dem idealen Staat, der ein gerechtes Zusammenleben seiner Mitglieder sichert.

I. Klassiker der Staatsphilosophie

Platon (428-348) Der Staat, Über die Gesetze
Aristoteles (384-322)    Nikomachische Ethik, Politik
Thomas Hobbes (1588-1679) Leviathan
John Locke (1632-1704)     Über die Regierung
Montesquieu (1689-1755) Vom Geist der Gesetze
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) Der Gesellschaftsvertrag
Georg Friedrich Hegel (1770-1831) Grundlinien der Philosophie des Rechts
Karl Marx (1818-1883)      Das Kapital
John Stuart Mill (1806-1873) Über die Freiheit

II. Legitimation des Staats und staatlicher Zwangsgewalt

Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß der Staat als Form des Zusammenlebens legitim ist, und jeder gezwungen werden kann, sich seinen Regeln zu unterwerfen. Noch weniger selbstverständlich ist, daß der Staat ein Recht haben soll, die Einhaltung dieser Regeln durch Zwangsmaßnahmen gegen seine Mitglieder zu sichern. Bevor man daher die Frage nach dem gerechten Staat stellen kann, muß man zuerst die Frage klären, ob der Staat und seine Zwangsgewalt als solche legitim sind.

Die Legitimität läßt sich spieltheoretisch aufweisen. Man stelle sich einen Urzustand vor, in dem jeder ein Recht auf alles hat. Dies ist so lange möglich, wie keine Berührungspunkte zwischen den Individuen bestehen. Sobald sich ihre Sphären überschneiden, kommt es zu Interessenkonflikten (Extremes Beispiel: A möchte B töten, B möchte am Leben bleiben). Die Individuen deren Sphären sich überschneiden kommen zu der Erkenntnis, daß es vernünftig ist, auf einige Freiheiten zu verzichten und sich an gewisse einschränkende Regeln zu halten, da sie damit für sich den größten Nutzen erreichen. Durch diese Überlegungen wird der Staat als Institution legitimiert.

Nun ist es aus spieltheoretischer Sicht für einen Einzelnen am vernünftigsten, gegen die Regeln zu verstoßen, während sich die anderen daran halten (z.B. Diebstahl als Verstoß gegen die Regeln über das Privateigentum). Es muß also eine Institution geschaffen werden, die den Nutzen des Regelverstoßes für den Einzelnen kompensiert. (z.B. angemessene Strafe für den Diebstahl) Diese Institution ist die staatliche Zwangsgewalt, die durch diese Überlegungen ihre Legitimation erfährt.

Durch diesen Ansatz wird auch der Forderung nach 'Herrschaftsfreiheit' oder Anarchie das Wasser abgegraben. Sie erweist sich aufgrund der Voraussetzung, daß jeder Mensch in erster Linie vernünftig und nicht moralisch handelt, als reine Utopie.

 

III. Der gerechte Staat - Die Theorie von John Rawls (*1921)

  • Du bist zum Mitglied in einem Gremium bestimmt worden, das die Grundstruktur (Verfassung, Grundsätze der Wirtschaftsstruktur etc.) für einen neu zu gründenden Staat festlegen soll. Dieser Staat entspricht dem Entwicklungsstand moderner westlicher Industriestaaten. Du vertrittst in diesem Gremium nur deine eigenen Interessen und willst für dich das Optimale herausschlagen. Das Problem besteht darin, daß du zwar weißt, daß du Bürger dieses Staates sein wirst, jedoch bist du nicht darüber informiert, welche Position du einnehmem wirst: Du weißt nicht, wie alt du sein wirst, ob du Mann oder Frau sein wirst, ob du arm oder reich sein wirst, ob du klug oder dumm, schön oder häßlich, weiß oder schwarz sein wirst. Du hast ebenfalls keine Information darüber, welches deine Interessen und Vorlieben sein werden.

Rawls stellt sich die Gesellschaft als ein System der Zusammenarbeit vor, das die Interessen jedes einzelnen Mitglieds befördern soll. Eine solche Kooperation zu wechselseitigem Vorteil ist durch eine Identität der Interessen– die Zusammenarbeit soll für jeden ein besseres Leben möglich machen– und gleichzeitigen Interessenkonflikt charakterisiert: jeder will einen möglichst großen Anteil aus der gemeinsam hervorgebrachten 'Nutzenmenge'. Die Prinzipien der Konflikt-Lösung, nach denen die Vorteile und Lasten der gemeinsamen Arbeit festgelegt werden, sind mit den Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, d.h. Gerechigkeit in der Verteilung der Güter, identisch.

Gerechtigkeit ist für Rawls (wie in der philosophischen Tradition üblich) die notwendige Bedingung einer lebensfähigen Gesellschaft, weshalb ihr absolute Priorität zukommt: Wie effizient und stabilisierend Gesetze und Institutionen auch immer sein mögen– wenn sie ungerecht sind, müssen sie auf jeden Fall verändert werden.

Um Prinzipien der Gerechtigkeit zu bestimmen, die Anspruch auf allgemeine Zusimmung haben, schließt Rawls an klassische Theorien des Gesellschaftsvertrags (Locke, Rousseau, vor allem Kant) an. Die Grundfrage von Rawls' vertragstheoretischer Begründung der Gerechtigkeit lautet:

"Welche Prinzipien würden freie und rationale, nur an ihrem eigenen Interesse ausgerichtete Personen wählen, wenn sie in einem ursprünglichen Zustand der Gleichheit zusammenkommen, ihre Gesellschaftsform definieren und sich für Grundregeln entscheiden sollen, an die alle weiteren Vereinbarungen gebunden sind?"

Gerechtigkeitsprinzipien lassen sich, so die Grundthese, aus dem rationalen Selbstinteresse ableiten, sofern es nur unter bestimmten idealen Bedingungen agiert.

 

Der Urzustand
Diese idealen Bedingungen soll der (fiktive) Urzustand gewährleiten.. Das Hauptmerkmal des Rawlsschen Urzustandes ist der "Schleier der Unwissenheit": Die Menschen wählen, ohne ihre persönlichen Interessen und Fähigkeiten zu kennen. Die Menschen wissen buchstäblich nicht, wer sie im einzelnen sind. Die von ihnen angestellten entscheidungsvorbereitenden Überlegungen sind daher nicht interessengeleitet. Die durch den Schleier des Unwissenheit entindividualisierten Personen werden notwendig eine einmütige Entscheidung treffen, und die entscheidungsbegründenden Argumentationen werden sich nicht voneinander unterscheiden. Der Schleier der Unwissenheit bewirkt genau die Selbsttranzendierung des Subjekts, die gemäß der Moralphilosophie von jedermann in moralisch relevanten Entscheidungssituationen bewußt zu vollziehen ist. (Þ Kants kategorischer Imperativ)

  • Wie läßt sich der in der ersten Aufgabe angegebene Urzustand erweitern, so daß man auch einen Generationenvertrag in die Grundstruktur miteinbeziehen kann.? Wie könnte das Ergebnis aussehen?
  • Wie könnte man den Grundgedanken auf die Tierwelt ausdehnen? Zu welchen Ergebnissen käme man? Sind diese Ergebnisse noch akzeptabel? Wäre die Anwendung auf Tiere überhaupt berechtigt?

 

Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze
Die Menschen die im Urzustand wählen, entscheiden sich vernünftigerweise für Gerechtigkeitsgrundsätze, die sicherstellen, daß sie nötigenfalls über ausreichend Grundgüter verfügen, um ihre Lebenspläne mit vernünftigen Erfolgsaussichten verfolgen zu können. Sie einigen sich deshalb auf zwei Grundsätze, die ihnen für den ungünstigsten Fall– die soziale Position der am wenigsten Begünstigten– einen größtmöglichen Anteil an Grundgütern garantieren:

  1. Jede Person hat ein gleiches Recht auf das umfassende System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
  2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie (a) zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten Begünstigten und (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen.

Dabei hat der erste Grundsatz Vorrang vor dem zweiten, und bestimmte Freiheiten dürfen nur zugunsten des Gesamtsystems der Freiheiten eingeschränkt werden. Als Beispiel führt Rawls an, es könne berechtigt sein, die Gewissensfreiheit zugunsten der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung einzuschränken. Allerdings darf keine Einschränkung der Freiheiten für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse vorgenommen werden.

Das erste Prinzip bezieht sich auf Grund(Menschen)-Rechte; das zweite Prinzip betrifft materielle und nichtmaterielle Interessen. Beide Prinzipien gelten nicht unmittelbar unseren Alltagsproblemen, sondern beziehen sich zunächst nur auf die Grundstruktur einer politischen Gemeinschaft: auf ihre Verfassung und ihre Sozial- und Wirtschaftsordung. Beide zusammen begründen im wesentlichen einen liberalen und sozialen Rechtsstaat: eine konstitutionelle Demokratie, in die eine kompetitive Ökonomie eingebunden ist. Keineswegs gilt der freie Markt für sich als die gerechte Wirtschaftsordnung. Zu ihr gehören vielmehr auch politische Rahmenbedingungen– wie zum Beispiel Kartellbestimmungen und vieles andere– die Richtungen der wirtschaftlichen Tätigkeit mitsteuern.

 

'A Theory of Justice'
Quelle für Rawls Ansichten ist in erster Linie das 1971 erschienene Buch 'A Theory of Justice'. Es ist von besonderer Bedeutung, weil kein philosophisches Werk in diesem Jahrhundert so schnell so große Aufmerksamkeit erzielte. Sein Verdienst war es die normative politische Philosophie, die man schon tot geglaubt hatte, wiederzubeleben. Dabei gelang es ihm durch seine detaillierte Darstellung, alle Bereiche der praktischen Philosophie und die ihnen benachbarten Einzelwissenschaften in ein interdisziplinäres Gespräch zu verwickeln und selbst noch die unakademische Öffentlichkeit zu interessieren.

Natürlich sind seine Thesen nicht unwidersprochen geblieben. Dabei gilt als Haupteinwand, daß er es versäumt hat, die Frage der Herrschaftslegitimation zu klären (siehe II.)

 

Literatur:

  • John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (suhrkamp)
  • Thomas W. Pogge, John Rawls (Beck'sche Reihe DENKER)

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