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Vom Mythos zum Logos - Die vorsokratische Philosophie

Die Philosophie ist dem Bedürfnis des denkenden Menschen entsprungen, über sich selbst und sein Dasein in dieser Welt zur Klarheit zu gelangen. So lassen Platon und Aristoteles das philosophische Denken mit der staunenden Verwunderung beginnen, also mit der Loslösung und der naiv unbefangenen Hinnahme des Lebens und der Umgebungswelt mit ihren Rätseln, und mit dem Erwachen der Selbstbesinnung, die zuerst all diese Rätsel als Rätsel erkennt. So wäre denn die Philosophie, ihrer ursprünglichen Absicht nach, eben das Ergebnis der Selbstbesinnung und Selbstorientierung des Menschen im Leben, wie in der Welt. Und dieses oberste Ziel hat sie im wesentlichen immer beibehalten.

Ursprünglich bedeutete "Philosophie" nicht, wie oft gesagt wird, Liebe zur Weisheit (sophia), sondern Streben nach Wissen, nach Kenntnissen bzw. Erkenntnissen im allgemeinen. Unter "sophia" verstand man nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Wissen im weiten Sinne. So konnte auch das Wissen, dessen z.B. ein Handwerker bedarf, als "sophia" bezeichnet werden. Somit gehört zur Bedeutung dieses Ausdrucks neben "Einsicht" bzw. "Wissenschaft auch die für Fertigkeiten, namentlich Kunstfertigkeiten erforderliche Sachkenntnis.

Auch der erste Wortbestandteil von "Philosophie" ist erklärungsbedürftig: Er weist ursprünglich nicht auf die reine Liebe zum Wissen– im Gegensatz zu Bemühungen um anwendbare Kenntnisse und im Unterschied zum Resultat des Erkenntnisstrebens– hin; sondern Philosophie bedeutet zunächst nur das Streben nach Erkenntnis im allgemeinen. Erst Plato scheint einen Gegensatz zwischen "sophia" und "philosophia" angenommen zu haben. Von nun an gilt der Anspruch, weise zu sein, oft als Anmaßung und infolgedessen die Beschränkung auf die Philosophia– im Sinne der Weisheitssuche– als Gebot der Bescheidenheit. (Þ Sokrates: Ich weis, daß ich nichts weiß.)

Aus diesen Vorbemerkungen dürfte klar geworden sein, daß philosophisches und wissenschaftliches Denken denselben Ursprung haben. Sie dienen der Selbstorientierung des Menschen in der Welt und im ganzen Kosmos.

 

Vom Mythos zum Logos
Wenn man vom Anfang der Philosophie– und damit auch dem wissenschaftlichen Denken– spricht, stellt sich natürlicherweise die Frage nach dem 'Vorher'. Auch die Menschen vor dieser Wendezeit des Denkens hatten das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung in der Welt. Was ihnen Halt gab war der Mythos. In ihm wurden Götter als Ursachen der Entstehung der Welt und der natürlichen Phänomene angesehen. Diese Erzählungen waren dabei nicht metaphorisch gemeint, sondern beanspruchten wahr zu sein. Ihrem Charakter nach waren sie personal (Bezug auf Göttergestalten) und transzendent (Bezug auf die jenseitige Götterwelt). Ursprünglich handelte es sich um mündlich weitergegebene Erzählungen, die gegen Ende des mythischen Zeitalters in Griechenland auch schriftlich aufgezeichnet wurden (Homer: Ilias, Odysee; Hesiod: Theogonie) und damit bereits einen Teil ihrer Lebendigkeit verloren. Als Beispiel für das mythische Denken kann ein Auszug aus Hesiods Theogonie dienen (entstanden um 700 v.Chr.):

"Zuerst von allem entstand das Chaos, dann aber die breitbrüstige Gaia [die Erde und– untrennbar von ihr– die Erdgöttin], der ewig feste Halt für alle Dinge, und der dunkle Tartaros im Inneren der breitstraßigen Erde, und Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, er, der, gliederlösend, in allen Göttern und Menschen den klaren Verstand und vernünftigen Willen in der Brust überwältigt. Aus dem Chaos aber wurde Erebos und die schwarze Nacht geboren, von der Nacht dann Äther und Hemera [der Tag und die Gottheit des Tages], die sie gebar, nachdem sie sich dem Erebos in Liebe vermählt hatte. Gaia aber gebar zuerst, gleich ihr selber, den gestirnten Uranos [Himmel und Himmelsgott], damit er sie ganz umhüllte, auf daß er für immer den seligen Göttern ein sicherer Wohnsitz wäre. Sie gebar auch die gewaltigen Berge, die lieblichen Behausungen der Götter. Sie gebar auch das unfruchtbare Meer, das im Wogenschwall daherbraust, den Pontos, doch ohne sehnsuchterweckende Liebe. Und endlich gebar sie, nachdem sie sich mit Uranos vermählt hatte, den tiefstrudeligen Okeanos."

Dieses mythische Denken wurde im 6. und 5.Jahrhundert v. Chr. schrittweise abgelöst, wenn sich auch noch sehr lange mythische Elemente in der Philosophie finden.

 

Milet - Die Wiege der Philosophie
Das neue Denken läßt sich auch geographisch festlegen: Die ersten Philosophen lebten in Milet, an der Ostküste der heutigen Türkei, etwas südlich von der Insel Samos gelegen. Milet war im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. eine reiche Handelsstadt. Durch ihre Lage wurde es zu einem Umschlagplatz für Waren aus dem gesamten Mittelmeerraum. Dadurch kamen die Menschen, die dort lebten mit anderen Völkern, Kulturen und Ideen in Kontakt, so z.B. mit Ägyptern und Babyloniern. Dies führte zu einer Erweiterung des intellektuellen Horizonts und auch zu einer Relativierung des eigenen Standpunktes. Diese kosmopolitische Atmosphäre trug wesentlich zur Entstehung dieser ersten Philosophie bei.

Der rege Handel schuf aber noch andere Voraussetzungen. Das Nachdenken über philosophische Probleme verlangt Zeit und diese Zeit steht erst zur Verfügung, wenn die äußere Notdurft einmal gestillt ist und die Menschen für andere Dinge Muße haben. So entstand die Philosophie bei den wohlhabenden Gesellschaftsschichten Milets, die genug Zeit hatten, sich den angenehmen Dingen des Lebens zu widmen. Dazu kommt der ionische Volkscharakter mit seiner Anlage zu wissenschaftlich-rationalem und damit abstraktem Denken und der Hang, nach Wissen um seiner selbst Willen zu streben und nicht nur zum bloßen Gebrauch, wie die Ägypter und Babylonier.

Dies alles und die für jede Wissenschaft notwendige und in Milet vorhandene Freiheit des Denkens trug dazu bei, daß gerade dort, und nicht wie man annehmen könnte in Athen, die Wiege der abendländischen Philosophie stand.

Die drei großen milesischen Naturphilosophen waren Thales, Anaximander und Anaximenes. Ihr Denken schöpft nicht mehr aus der mythischen oder irgendeiner sonstigen Tradition, sondern es geht aus von der vom Menschen vorgefundenen Wirklichkeit. Außerdem ist es von der Gewohnheit bestimmt, die Welt, in der der Mensch lebt, als organische Einheit zu sehen. So zeigt die griechische Philosophie bereits in ihren Anfängen jene deduktive Tendenz, das Einzelne aus dem Allgemeinen, das Individuelle aus dem Universellen abzuleiten. Folglich lautet das Hauptproblem der drei Milesier: Was ist das Eine, das Prinzip, auf das alles zurückgeführt werden kann, kurz, was ist die arche? Diese Frage versuchen sie, im Gegensatz zu ihren im mythischen Denken verfangenen Vorgängern, mit dem Mittel selbständigen, vernunftmäßigen Denkens zu beantworten, Sie greifen dabei nicht auf die Weltdeutung eines Homer oder Hesiod zurück, sondern versuchen die Welt aus einer natürlichen Ursache heraus zu erklären. Ihr Weltdeutung ist also apersonal (ohne Bezug auf Göttergestalten) und immanent (an der vorgefundenen Wirklichkeit orientiert).

 

Thales (ca.624 - 546 v.Chr.)
Thales sagt, Wasser sei das Prinzip von allem, heißt es bei Aristoteles. Thales meint damit, daß Wasser das ist, woraus alles entstanden ist und was letztlich alles ist. Wie aber kommt er zu dem Schluß, daß gerade Wasser dieses Prinzip ist? Hierbei lassen sich zwei Klassen von Gründen aufzeigen:

1.Mythologische Einflüsse

2.Rationale Erklärungen

Obwohl sich Thales von mythologischen Deutungen der Welt absetzt, ist nicht auszuschließen, daß diese unbewußt immer noch eine Rolle spielen. Thales lebte in einer Gesellschaft, die unzweifelhaft mit ägyptischen und babylonischen Ideen enge Bekannschaft machte und es ist anzunehmen, daß er Ägypten selbst bereist hat. Beide Kulturen waren echte "Fluß-Kulturen". Die eine lag an den beiden Flüssen Mesopotamiens und der Bestand der anderen war abhängig vom Nil. Thales lernte so von den ägyptischen Priestern, daß das Prinzip von allem Wasser sei. Denn das Überleben der ägyptischen Kultur beruhte auf der jährlichen Nilschwemme. Und von der Erfahrung, daß aus dem Wasser bzw. aus dem zurückgelassenen Schlamm neues Leben entsteht, ist es nicht mehr weit zu einer entsprechenden Kosmogonie. Doch nicht nur ägyptische und babylonische Kosmogonien stellten das Wasser in den Mittelpunkt. Auch Homer (Ilias) beschreibt den Oceanus als den Ursprung von allem. Aus dieser Sicht ist es fast unvermeidlich, daß mythologisches Gedankengut in Thales' Idee vom Wasser als der arche hineinspielte, obwohl er das rationale Denken zu seinem Prinzip gemacht hatte.

Für Thales' Theorie, Wasser als die arche zu sehen, gab es mehrere rationale Erklärungen. So ist Wasser der einzige Stoff, der in der Natur, abhängig von seiner Temperatur, sowohl fest, flüssig als auch gasförmig vorkommt. Ein weiterer Grund dürfte die enge gedankliche Verbindung von Leben und Wasser bei Thales gewesen sein. Aristoteles vermutete, daß er festgestellt haben könnte, daß Nahrung und Samen immer Feuchtigkeit enthalten und daß die von Lebendigem ausgestrahlte Wärme immer feuchte Wärme ist. Bestärkt wurde diese These vielleicht durch die Beobachtung, daß bei Toten zwei Dinge eintreten: Sie werden kalt und sie trocknen aus. Neben diesen Erklärungen spielte natürlich auch die Lage Milets am Meer eine Rolle. Denn durch die Bedeutung des Meeres als Nahrungsspender und durch seine scheinbare Unendlichkeit, die ihn dazu veranlaßte, die Erde als auf dem Wasser schwimmend zu sehen, wurde Thales in seiner geistigen Entwicklung sicher geprägt.

Aus heutiger Sicht wirft die Ansicht, die Welt lasse sich aus einem einzigen Prinzip und damit monistisch erklären, einige Probleme auf. So scheint die Idee eines (scheinbar) materiellen Prinzips im ersten Augenblick primitiv zu sein. Ebenso wie die Inkonsequenz, trotz eines Monismus zusätzlich eine bewegende Kraft anzunehmen. Um diese scheinbaren Widersprüche zu verstehen, muß man tiefer in das Denken der Milesier eindringen. Die Milesier unterschieden nicht zwischen Stoff und bewegender Ursache. Sie hielten Materie für belebt und Thales belegte diese These mit dem Hinweis auf die bewegende Kraft von Magnet und Bernstein. Erst Aristoteles führte die Unterscheidung ein, was ihn in Unkenntnis der milesischen Denkweise dazu veranlasste, die Milesier als Materialisten abzuqualifizieren, d.h. ihre arche-Theorien rein stofflich zu deuten.

Neben diesem primär philosophischem Ansatz finden sich über Thales aber auch Anekdoten, die auf Anfänge naturwissenschaftlicher Hypothesenbildung hinweisen. So wird ihm eine originelle Theorie zur Überschwemmung des Nils zugeschrieben. Allem Anschein nach hatte Thales einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Überschwemmung des Nils und den sogenannten Etesien– das sind vom Norden her wehende Winde im östlichen Mittelmeer– beobachtet und daraus gefolgert, daß es diese Winde sind, die den Nil daran hindern, ins Meer abzufließen, und so das Ansteigen des Wasserstandes zu verantworten haben.

Thales' Verdienst ist es, als erster den Versuch unternommen zu haben, die Vielheit der Welt aus einer einzigen, natürlichen Ursache zu erklären. Damit legte er den Grundstein sowohl für die Philosophie als auch für die Naturwissenschaft.

 

Anaximander (ca. 611 - 546v.Chr.)
Wie für Thales stand für Anaximander die Frage nach dem Urgrund (arche) im Vordergrund. Sein großer Fortschritt gegenüber Thales in seiner Wahl der arche ist die Annahme eines nicht empirisch gegebenen Stoffes als arche.

"Die arche der seienden Dinge ist das apeiron. Aus denen aber die Dinge ihre Entstehung haben, dorthin findet auch ihr Untergang statt, gemäß der Notwendigkeit. Denn sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Ordnung der Zeit."

So lautet sinngemäß das einzige erhalten gebliebene Fragment. Um dies zu verstehen, müssen einige zentrale Gedanken der anaximandrischen Philosophie näher betrachtet werden.

Das Unbegrenzte (apeiron)
Anaximander wies den Gedanken zurück, ein in der Welt real vorkommender Stoff könne die Grundlage für alles übrige sein. Er setzte eine andere, unbestimmte und in ihrem Wesen viel weniger faßbare Substanz dagegen, das apeiron, das den uns vertrauten Stoffen in gewisser Weise vorgeordnet ist. Wie hat man sich dieses apeiron vorzustellen? Zuerst ist festzuhalten, daß diese apeiron für Anaximander ein Stoff bzw. Ding war und dass dafür immer noch die hylozoistische Anschauung von der Einheit von Stoff und bewegender Kraft gilt. Der Unterschied zu seinem Vorgänger Thales liegt in der Wahl eines empirisch nicht faßbaren, eben unbestimmten Stoffs als arche. Die Unbegrenztheit dieses Stoffes ist in dreierlei Art und Weise zu sehen: 1) zeitlich: Das apeiron ist in seinem Wesen unvergänglich und damit unsterblich. Es ist unveränderlich und nicht alternd und was wichtig ist, es ist ohne Anfang. Denn nur was selbst keine arche besitzt, kann arche sein. 2) quantitativ: Das apeiron ist unbegrenzt im Sinne von unerschöpflich. Es ist ein nie endendes Reservoir für den Prozeß des Entstehens. 3) qualitativ: Das apeiron ist innerlich unbegrenzt, im Sinne von formlos, undifferenziert, bestimmungslos. Gerade diese Eigenschaft macht es so schwer, den Gedanken vom apeiron zu interpretieren.
All diese Eigenschaften machen das apeiron zudem göttlich. Das apeiron existiert ewig, ist bewußtseinhabend und ist das, was alles lenkt.

Die Gegensätze
Für Anaximander bestand die Welt aus einem fortwährenden Kampf der Gegensätze. Das Heiße und das Kalte, das Feuchte und das Trockene; sie waren die Gegner in diesem Kampf. Dabei ist zu beachten, daß Anaximander die Eigenschaften (kalt, heiß etc.) verdinglicht, sie also analog zu seiner arche als Ding sieht. Anaximander kam zu dieser Theorie durch die Beobachtung der natürlichen Tendenz jedes Elements, seinen "Gegner" zu verschlingen. Feuer und Wasser stehen unvermeidlich in einem Konflikt. Wenn sie aufeinandertreffen kommt es zu einem Kampf, der dauert, bis entweder das Feuer durch das Wasser gelöscht wurde oder bis das Feuer das Wasser aufgezehrt hat und als alleiniger Sieger zurückbleibt. Aber in der Welt als Ganzes kann es nie einen vollkommenen und endgültigen Sieg geben: das Gleichgewicht zwischen beiden wird immer wieder hergestellt oder aufrechterhalten. Erreicht einer der beiden einen lokalen Vorteil, so kommt der andere an anderer Stelle zu seinem Recht.

"Sie leisten einander Sühne und Buße gemäß der Ordnung der Zeit"

In diesem Satz findet sich zugleich auch die erste Formulierung eines Naturgesetzes. Wenn es auch noch sehr weit und einfach gefaßt ist, so kommt doch schon der Gedanke einer regelmäßigen Ordnung der Welt zum Ausdruck; so die regelmäßige Aufeinanderfolge von zeitlichen Perioden ("... die Ordnung der Zeit ..."), wie sie sich z.B. in den Jahreszeiten wiederfindet: Der heiße und trockene Sommer wird abgelöst vom kalten und feuchten Winter und umgekehrt. Dabei bleibt gemäß dem "Gesetz" nie einer der beiden Gegensätze Sieger, sondern es kommt immer wieder zu einem gerechten Ausgleich ("... Buße und Sühne für die Ungerechtigkeit ...").

 

Anaximines (zweite Hälfte des 6.Jh. v.Chr.)
Der Ansatz von Anaximines ähnelt dem seiner Vorgänger. Seine arche ist Luft (aer), die er als unbestimmten aber nicht grenzenlosen Stoff ansieht. Die Entstehung der Elemente erklärt er durch die Verdichtung bzw. Verdünnung von Luft.

Zusammenfassung
Wenn man die ionischen Naturphilosophen aus heutiger Sicht betrachtet, muß man einige Punkte beachten:

  • So sehr sich diese ersten Philosophen auch dem rationalen Denken verschrieben haben, so spielen doch immer noch mythische Einflüsse eine Rolle.
  • Diese ersten Philosophen waren keine Philosophen im heutigen Sinne, sondern eher eine Art Naturwissenschaftler, ausgestattet mit dem Drang, eine rationale Ursache für die Geheimnisse der Welt zu finden.
  • Die Milesier waren in ihren Ansichten radikale Vereinfacher, worauf schon ihre Meinung hindeutet, es gebe nur ein einziges Prinzip der Welt, aus dem sich alles ableiten ließe (Monismus).
  • Die Übertagung der Begriffswelt der Milesier uind der Vorsokratiker überhaupt auf unser heutiges Denken ist nicht unproblematisch. Schon Aristoteles wurde durch diese Tatsache zu einer falschen Interpretation der ionischen Naturphilosophie verleitet. Da er ihe hylozoistische Auffassung nicht erkannte, bezeichnete er sie fälschlicherweise als Materialisten (im modernen Sinne).
  • Aus den Interpretationsproblemen Aristoteles' ist schon ersichtlich, daß die Überlieferungslage sehr schlecht ist. Die Ansichten der Milesier sind fast ausschließlich als Exzerpte und Zitate in sehr viel späteren Schriften anderer Autoren zu finden. Hinzu kommt, daß diese wengen Zeugnisse meist durch diese Autoren verfärbt sind und sich so eine genaue Rekonstruktion sehr schwierig gestaltet.

 

Atomisten: Demokrit und Leukipp
Weitere aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht interessante Vorsokratiker sind die Atomisten (ca.430 - 380 v.Chr), die bereits Zeitgenossen von Sokrates waren, mit dem es zur Abkehr von naturphilosophischen hin zu ethischen Fragestellungen kam.

Für die Atomisten stellte sich folgendes Problem: In welchem Sinne können wir von "Werden" sprechen, wenn das Seiende selbst nicht dem Werden unterworfen ist? Ihre Antwort lautete folgendermaßen: Man darf nicht ein einziges unveränderliches Seiendes annehmen, sondern hat mit einer Vielheit von unentstandenen, unveränderlichen und unvergänglichen Seienden zu rechnen, die in wandelbare Aggregate– die empirischen Dinge– eintreten und bestehen bleiben, wenn diese Aggregate sich auflösen. Wegen der angenommenen Unteilbarkeit der elementaren Seienden heißen diese bei Leukipp und Demokrit "Atome" (von "atomon" = unteilbar). Die Atome sind bewegliche, vollkommen kompakte Partikel von konstanter Masse, Gestalt, Größe und Dichte, die außer diesen Bestimmungen keine anderen– namentlich keine qualitativen Eigenschaften (Farbe, Temperatur etc.)– haben. Es soll runde, eckige und häkchenförmige Atome geben, wobei Komplexe aus runden oder gar aus häkchenförmigen Atomen als stabiler galten als Komplexe aus runden, gegeneinander leicht verschiebbaren Teilchen.

Die These, daß die Atome nur durch Größe, Gestalt und Lage voneinander unterschieden sind, zieht die Frage nach sich, warum wir die Dinge als farbig, tönend, duftend etc. erfahren. Die Antwort kann unter der Voraussetzung der atomistischen Theorie nur lauten, daß die Eigenschaften der letzteren Art Reaktionen des Subjekts auf Reize von Seiten der Dinge sind, wobei diese Reize selbst nur durch quantitative Eigenschaften bestimmt sein sollen. Demokrit spricht von "Abflüssen" bzw. "Bildern". Die Welt der farbigen, tönenden, duftenden etc. Dinge ist subjektive Erscheinung; von der Welt wie sie an sich besteht, wird dagegen angenommen, daß sie nur durch quantitative, somit prinzipiell mathematisch ausdrückbare Beziehungen bestimmt ist.

Blickt man vom Standpunkt des 20.Jahrhunderts auf die antike Atomistik zurück, könnte man sich versucht fühlen, sie für eine naturwissenschaftliche Theorie zu halten. In Wirklichkeit war sie nicht naturwissenschaftlich, sondern naturphilosophisch bzw. metaphysisch motiviert, da die Atomisten ihre Theorie nicht auf Beobachtungen beziehen konnten. Der Begriff des Atoms wird nicht der Erfahrung entnommen, er wird auch nicht gebildet, um bestimmte Erfahrungstatsachen zu erklären, sondern dient in erster Linie dazu, eine philosophische Theorie des Werdens zu formulieren. Mit Hilfe dieser Theorie sollte begreiflich gemacht werden, daß Dinge entstehen, sich wandeln und eines Tages zu bestehen aufhören. Da die Atomisten an der Voraussetzung festhielten, daß unabhängig von etwas Unwandelbarem nicht von "Werden" gesprochen werden kann, schufen sie den Begriff von etwas, das dem Werden entzogen ist, aber in veränderliche Komplexe eingehen kann.

Nichtsdestotrotz hat das atomistische Denken großen Einfluß auf das Denken der Folgezeit ausgeübt und zur Herausbildung der exakten Naturwissenschaft beigetragen. Ein Denker wie Werner Heisenberg (1901-1976) wurde auch durch das Studium von Platos Dialog "Timaios", der sich mit der atomistischen Theorie auseinandersetzt, angeregt sich weiter mit der Materie zu befassen:

"Was ich dort las, kam mir völlig absurd vor.(...) Aber es beunruhigte mich tief, daß ein Philosoph, der so kritisch und scharf denken konnte wie Plato, doch auf derartige Spekulationen verfallen war.(...) So benützte ich den Dialog weiterhin nur, um meine Kenntnisse im Griechischen aufzufrischen. Aber die Beunruhigung blieb. Das wichtigste Ergebnis der Lektüre war vielleicht die Überzeugung, daß man, wenn man die materielle Welt verstehen wollte, etwas über ihre kleinsten Teilchen verstehen mußte."

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